„Hast du eigentlich noch Sex?“

„Hast du eigentlich noch Sex?“

Diese Frage hörte ich neulich zufällig in einem Gespräch zwischen zwei Müttern.
Die eine hatte ein schlafendes Baby vor der Brust und eines im Buggy, die andere wurde gerade am Anorak von ihrer kleinen Tochter gezerrt, die dringend ihr Flascherl wollte, während sie mit der anderen Hand versuchte, den überladenen Kinderwagen zu schieben.

„Na ja“, kam die Antwort nach einer kurzen Pause, „eigentlich sind wir am Abend immer viel zu erschöpft. Wir geben uns halt ein Busserl und sind froh, wenn wir endlich schlafen können.“

Ich blieb bei diesem Satz hängen.
Nicht, weil er ungewöhnlich war, im Gegenteil. Weil er so alltäglich ist. So ehrlich. Und so symptomatisch für unsere Zeit.

Ein paar Tage später saßen Margit und ihr Partner Reinhard bei mir und wollten eine Paartherapie machen. (Namen natürlich geändert) Sie erzählten von ihrer kleinen Tochter, die vor einem Jahr auf die Welt kam. Seitdem wechseln sie sich ab mit Schlafen. Irgendwer hätte immer ein Schlafdefizit. Naja, und er gehe halt arbeiten und ihr fällt die Decke zu Hause auf den Kopf. Sie hätten eine klassische Rollenverteilung, die sie eigentlich ablehnen. Sie würden sich zwischen Nähe, Erschöpfung und dem Vergessen von einfachen Dingen erleben, wie z.B. einfach in Ruhe duschen oder essen. Die Überforderung mache sie reizbar und dann streiten sie.

Viele Paare, vor allem Eltern kleiner Kinder, kennen diese Gefühle:
Die Tage sind gefüllt mit Pflichten, To-do-Listen, Sorgen und Müdigkeit. Nähe wird organisatorisch. Zärtlichkeit zweckmäßig und Sexualität verliert ihre Verspieltheit, ihren Zauber und wird von Erschöpfung verschluckt.

Doch geht es gar nicht „nur“ um Sex.
Es geht um Lebendigkeit, um das Gefühl, sich selbst zu spüren, um Raum für das, was zwischen zwei Menschen schwingen kann, wenn sie aufhören zu funktionieren.

Margit und Reinhard sind kein Einzelfall. In meiner Praxis begegne ich vielen Menschen, die ohne es zu merken innerlich austrocknen, funktionieren und ihre INNERE STIMME verloren haben.
Sie kümmern sich, sie leisten, sie geben. Aber sie atmen und spüren sich selbst kaum, wenn überhaupt.
Ihr Körper funktioniert, doch ihr Leib, ihr fühlendes, lebendiges Selbst, zu dem Geist und Seele gehören, sehnt sich nach Berührung, nach Gesehenwerden, nach echter Resonanz, nach Liebe.

Um ein Kind groß zu ziehen, braucht es ein ganzes Dorf. Wo sind die Großeltern, wo die Freunde, wo Gemeinschaften, in denen man sich unterstützen kann? Dies war eine der Fragen an meine beiden Klienten in der Paartherapie.

Der Wunsch von Margit und Reinhard aber war, wieder in Kontakt zu kommen. Sexualität als gelebte Verbundenheit wieder zu haben. Die tiefere Bewegung der Seele, wie sich in einer Aufstellung zeigte, war der Wunsch, in sich selbst Liebe zu finden und erst dann dem anderen zu begegnen.

In der Integrativen Therapie verstehen wir den Leib als eine Art Gedächtnis unserer Existenz, als den Ort, an dem sich Leben, Beziehung und Geschichte einschreiben.
Und der Leib erinnert sich. Er trägt die Spuren von Nähe und Trennung, Lust und Scham, Freude und Schmerz in sich.

Wenn der Körper durch Überforderung und Abstumpfung zur „Maschine“ wird, die funktionieren muss, verliert der Leib, also Körper, Geist und Seele, seine Lebendigkeit. Über Symptome, Schmerzen oder andere Auffälligkeiten, z.B. Unfälle, reagiert der Leib, die Seele versucht auf sich aufmerksam zu machen.
Gleichzeitig lauern in der digitalen Welt neue nicht zu unterschätzende Versuchungen und Gefahren: Internetplattformen und bestimmte Apps gaukeln uns Nähe, Begehrtheit oder Intimität vor. Doch was bleibt ist eine leere Simulation von Verbindung, welche ebenso Gefühle der Leere nach sich ziehen. Das, was eigentlich lebendig schwingen könnte, wird dadurch noch starrer, fragmentierter und weiter von der echten leiblichen Erfahrung entfernt!

Wenn Beziehung und Körperkontakt verflachen, geht es selten nur um „keine Lust“, sondern oft um tieferliegende Themen: Erschöpfung, Überforderung, emotionale Distanz oder auch alte Verletzungen, die im Leibgedächtnis fortwirken. Sexualität und die Art wie wir sie leben, ist ein Spiegel unseres inneren Zustands. Sie zeigt, ob wir verbunden sind mit uns selbst, mit unserem Körper, mit dem Leben.

In der Therapie brachten Margit und Reinhard zum Ausdruck was innerlich in ihnen vorging. Transgenerationale Dynamiken kamen zum Vorschein. Eltern, die auch allein und überfordert waren. Den beiden gelang eine gute Rückschau mit Rückgabe der Belastungen. Glaubenssätze wurden aufgedeckt und verändert. Wir arbeiteten mit Perspektivenwechsel. Wie wichtig ist jeder und wie geht’s dem anderen. Margit war am Ende einer Therapiestunde ganz beeindruckt und meinte, es gehe gar nicht um Sex, sondern um Authentizität und Identität.
Wer bin ich? Wer bist du?
Ja, es geht darum, wieder Raum zu schaffen für das, was sich zeigen will, wenn wir still werden.
Wenn wir uns erlauben, zu spüren. Wenn wir unsere Bedürfnisse wahrnehmen und leben. Wenn wir uns selbst lieben, muss Nähe nicht geplant werden. Dann kann sie erlebt werden, gemeinsam verbunden und intim.

Manchmal beginnt das mit einem Blick.
Mit einem Atemzug und einer Berührung.
Mit der Frage: Wie geht es dir wirklich?

Der Weg zurück zu einer lebendigen Intimität führt sicher nicht über Druck oder Erwartungen.
Er führt über Bewusstheit, Achtsamkeit und die Bereitschaft, sich selbst wieder zu spüren und zu lieben.

Es ist an der Zeit, sich wieder Zeit zu nehmen. Zeit, die nicht durch Termine, To-do-Listen oder Kinderbetreuung bestimmt ist, sondern einfach nur dem Miteinander gehört. Es braucht oft gar nicht viel – manchmal reicht es schon, die Kinder für ein paar Stunden zur Oma oder einer Freundin zu geben, um wieder Atem zu holen, sich zu spüren, einander wahrzunehmen. Alte Rituale, die früher selbstverständlich waren, können wie kleine Brücken in die Nähe wirken: gemeinsam kochen, spazieren gehen, tanzen, sich zuhören oder meditieren. Es gibt wunderbar geführte Kurzmeditationen über Atmen, sich selbst lieben, etc. Wald, Naturerlebnisse, Tiere, Musik, finde was dir guttut.

Achtsamkeit im Alltag heißt, sich nicht ablenken zu lassen von ständigen „daily hassles“. Nimm dir bewusst Zeit für Momente der Nähe. Umarme und lass dich umarmen, länger als einen Atemzug. Dort, wo Zeit und Aufmerksamkeit sich wirklich begegnen, entsteht Verbundenheit. Und manchmal ist genau das der Anfang, um wieder in das lebendige Schwingen des Leibes und der Liebe zurückzufinden.

Die eigentliche wichtige Frage lautet also nicht:
„Hast du eigentlich noch Sex?“
Sondern:

Liebst du dich selbst?

Kennst und folgst du deinen Bedürfnissen?

Wie gut kannst du zuhören? 

Wie wichtig bist du, um dich selbst nicht mehr wichtig zu nehmen?“